13.05.2016

Diabetes ist nicht gleich Diabetes




Dieser einbeinige Bettler an Krücken, im Jahre 1879 von Marquard Wocher gezeichnet, war gewiss kein Diabetiker. Wahrscheinlich hatte er sein Bein im Krieg verloren, wie so viele Schweizer, die sich als Söldner in den Armeen Europas verdingten. Heutzutage gehen von den jährlich etwa 50.000 Fuß- und  Beinamputationen in deutschen Krankenhäusern mehr als 40.000 auf das Konto von Diabetes. Ein Heer von einbeinigen Diabetikern. Warum sehen wir sie nicht? Sie sterben fast alle innerhalb von 6 Jahren nach der Amputation, nachdem der Hälfte von ihnen zuvor noch das zweite Bein entfernt wurde.      



Wenn Sie ihre Augen schließen und "Diabetiker" sagen, welches Bild sehen Sie vor sich? Ich bin mir ziemlich sicher, da erscheint eine übergewichtige, eher ältere Person. 

In meiner Kindheit, Anfang der 1950 Jahre, war dies ganz anders. Damals besuchte uns ab und an ein spindeldürrer Mann, ein Schulfreund meiner Mutter. Er hatte die eigenartige Eigenschaft, immer eine Aktentasche mit sich zu tragen. Einmal griff er mit zittrigen Händen hinein, holte eine Tafel Traubenzucker heraus und schob sie sich schnell in den Mund. 

"Ach, der arme Diabetiker, es ist so traurig", hörte ich meine Mutter sagen, nachdem sie ihn an die Haustür begleitet hatte. Damals verstand ich nicht, dass er an einer lebensbedrohlichen Krankheit litt, Typ-1-Diabetes. In der Aktentasche hatte er sein Insulinbesteck, Traubenzucker und abgewogene Essensportionen. Er starb wenige Jahre später an Unterzuckerung, wahrscheinlich an einer zu hohen Dosis Insulin, dem Medikament, welches ihm erlaubt hatte, überhaupt das Erwachsenenalter zu erreichen. 

Als ich damals meine Mutter fragte, warum Großvater nie Kuchen mit uns esse, antwortete sie: "dein Großvater hat Alterszucker". Auf die Idee, dass dieser stattliche Mann ein Diabetiker sein könnte, wäre ich im Traum nicht gekommen. 

Den Ausdruck "Alterszucker" kennen wahrscheinlich die jüngeren Leser gar nicht mehr. Diese Krankheit heißt jetzt Typ-2-Diabetes und sie hat sich seit meiner Kindheit von einer seltenen zu einer Volkskrankheit entwickelt. Anfang der 1950er Jahre litten knapp 1% der über 65jährigen Deutschen an Typ-2-Diabetes, vor 50 Jahren etwa 2%, jetzt bald 25%. Tendenz immer noch steigend.

Von den etwa 7 Millionen Diabetikern in ärztlicher Behandlung haben rund 0,4 Millionen Typ-1-Diabetes. Dazu kommen geschätzte 2-3 Millionen nicht diagnostizierte Typ-2-Diabetiker. Im vergangenen Jahr beliefen sich die Aufwendungen der Krankenkassen für die Behandlung von Diabetes und die direkten Folgekrankheiten auf rund 35 Milliarden Euro oder durchschnittlich etwa 5.000,- Euro jährlich pro Diabetiker. 

Warum nur ist unsere Schulmedizin so erfolgreich in der Behandlung von Typ-1-Diabetes und so ungemein erfolglos bei Typ-2-Diabetes?


Eines der ersten Kinder mit Typ-1-Diabetes, welche 
durch das seit 1923 hergestellte Medikament Insulin 
vor dem Verhungern gerettet wurden. Links vor, 
rechts mit Insulintherapie

Tatsächlich handelt es sich um völlig unterschiedliche Krankheiten. Bei Diabetes Typ 1 produziert die Bauchspeicheldrüse kein oder fast kein Insulin, welches unsere Zellen benötigen, um Glukose aufnehmen zu können. Bevor 1923 Hoechst in Frankfurt Insulin aus tierischem Pankreas herstellte, verhungerten die meist jungen Patienten förmlich unter den Augen ihrer Eltern. Erst jetzt konnten die Fachärzte ihre Patienten auf den Weg ins Leben, statt in den Tod begleiten. Bis in die 1980er Jahre immer noch ein steiniger Weg, da der insulinabhängige Diabetiker mangels präziser Blutzucker-Messgeräte in Gefahr schwebte, durch eine Überdosierung in ein tödliches Unterzuckerungskoma zu fallen.    

Die Ursache von Diabetes Typ 2 ist typischerweise Insulinresistenz gepaart mit Hyperinsulinismus, keineswegs Insulinmangel. Eine völlig andere Situation. Bei insulinempfindlichen Menschen braucht es nur kleine Mengen dieses Hormons, um die Glukosemoleküle, welche durch die Verdauung von Kohlenhydraten in die Blutbahn eingeflossen sind, in die Körperzellen zu schleusen. Bei Insulinresistenz ist dieser Vorgang gestört. Die Zellen lassen nur widerwillig Glukose ein, worauf die Bauspeicheldrüse mit mehr Insulin reagiert, um den Eintritt zu erzwingen. Der Insulinspiegel im Blut steigt. Doch je höher der Insulinspiegel, um so mehr wächst im Laufe der Zeit die Insulinresistenz, um so mehr Insulin wird produziert, um so höher der Insulinspiegel… Ein Teufelskreis. 

Unsere "gesunde Mischkost" mit zu viel zucker- und stärkehaltigen Speisen und zuckerhaltigen Getränken führt schnell zu Insulinresistenz und Hyperinsulinismus. Dann verfettet zuerst die Leber, dann die Bauchspeicheldrüse und es baut sich vorzugsweise Fett um die Organe im Bauch auf.

Es steigen der Blutdruck und die Blut-Fettwerte, es bilden sich Ablagerungen in den Arterien. Das Herzinfarktrisiko und das Risiko eines Gehirnschlags steigen. Das gute Zusammenspiel mit anderen Hormonen gerät in Unordnung. Kurzum, es bildet sich ein "metabolisches Syndrom". 

Erst nach Jahren steigt der Nüchternblutzucker und es schießt der Blutzucker nach dem Essen immer mehr in die Höhe. Das verzuckerte Hämoglobin HbA1c, Indikator für den Langzeit-Blutzuckerspiegel, steigt zuerst langsam auf 6%, dann auf 6,5%, auf 7% und dann sehr schnell auf 10% und immer weiter. 

Jetzt erst, nicht selten Jahrzehnte nach Beginn des Teufelskreises, fühlt man sich krank und deprimiert, weil immer schwächer und antriebsloser. Nachts muss man immer häufiger zur Toilette, zuerst 3, dann 4, dann 5 mal. Endlich sucht man den Arzt auf. Er verschreibt eine Blutanalyse und verkündet bald mit besorgter Miene das Urteil: "Sie haben Diabetes." 

So erging es mir und vielen, vielen anderen vor mir. Dabei hätte es gar nicht so weit kommen müssen. Hätte ich nur früher gewusst, was ich heute weiß, dass ich zu den Menschen gehöre, die eine Veranlagung geerbt haben, durch eine zucker- und stärkereiche Ernährung eine Insulinresistenz mit Hyperinsulinismus auszubilden, welche sich im Laufe der Zeit immer weiter verstärkt, bis das Stadium von Diabetes Typ 2 erreicht ist. 

Erfreulicherweise lässt sich dieser Teufelskreis umkehren, und zwar durch eine Umstellung auf eine strikt zucker- und stärkearme, dabei fettreiche, moderat eiweißhaltige Kost aus unverfälschten Lebensmitteln.

Dann sinkt sehr schnell der Blutzuckerspiegel auf ein akzeptables Niveau, irgendwann auch der zu hohe Insulinspiegel. Dadurch kann der Körper endlich seine Fettdepots anzapfen. Zuerst entfettet sich die Leber, dann die Bauchspeicheldrüse. Man verliert Bauchfett und freut sich, den Gürtel enger schnallen zu können. Auch Blutdruck und Blutfettwerte normalisieren sich in erfreulicher Weise. Überhaupt verbessert sich das Zusammenspiel einer ganzen Reihe von Hormonen. Etliche kleinere und größere Zipperlein verschwinden. Man befindet sich auf dem Weg zu einer tiefgreifenden Gesundung. Lebenskraft und Lebensfreude erblühen, mit ihnen die Freude an Bewegung. Mit etwas Glück erwachen prickelnde Frühlingsgefühle selbst im Herbst des Lebens und der Mensch ist wieder Mensch und kein Patient.

Mit dem sinkenden Insulinspiegel verbessert sich die Insulinresistenz. Dies erreicht man am besten mit einer strikt zucker- und stärkearmen, moderat eiweißhaltigen, fettreichen Kost aus unverfälschten Lebensmitteln und langen Pausen zwischen den Mahlzeiten, das heißt maximal 3, besser nur 2 Mahlzeiten täglich. Zwei Fastentage pro Woche oder in periodischen Abständen eine Fastenwoche wirken wahre Wunder. Hält man sich an diese Regeln, setzt recht schnell ein tiefgreifender Heilungsprozeß ein. Der Diabetes verschwindet. 

Die Deutsche Diabetes Gesellschaft vertritt genau die entgegengesetzte Ernährungsweise: Mahlzeiten mit viel Zucker und Stärke, moderat Eiweiß und wenig Fett, aufgeteilt in täglich 3 Haupt- und 3 Zwischenmahlzeiten.

Damit besteht keine Chance auf eine Verbesserung der Insulinresistenz. Die Diabetikerkarriere beginnt mit Metformin, dann folgen Medikamenten zur Steigerung der eigenen Insulinproduktion, irgendwann beginnt die Therapie mit Fremdinsulin. Die Dosierungen steigen und mit ihr die Insulinresistenz. Der alte Teufelskreis dreht sich immer schneller. Die Konsequenz: trotz akzeptabler Blutzuckerwerte erhöhen sich die Risiken von Nervenschädigungen, Durchblutungsstörungen, Fuß- und Beinamputationen, Blindheit, Herzinfarkt, Schlaganfall, Nierenversagen …

Der Diabetes hat sich zu einer chronischen, fortschreitenden Krankheit entwickelt. Der Mensch ist nun Dauerpatient.

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.









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